„Dreigliederung des sozialen Organismus“ – Karl-Dieter Bodack


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Rudolf Stei­ner hat vor dem Hinter­grund des deut­schen Kaiser­reichs und der Kata­stro­phe des 1. Welt­kriegs bedeut­sa­me Inten­tio­nen für eine künf­ti­ge Sozi­al­ge­stal­tung der Gesell­schaft entwi­ckelt. In seinem Buch „Die Kern­punk­te der sozia­len Frage“ (1919) hat er die wesent­li­chen Grund­la­gen vor allem der „Drei­glie­de­rung des sozia­len Orga­nis­mus“ darge­stellt. Sie wurden viel­fäl­tig aufbe­rei­tet und weiter­ge­führt, oft unter dem verkürz­ten Begriff der „sozia­len Drei­glie­de­rung“ . Diese Kurz­form erscheint proble­ma­tisch, da damit der essen­ti­el­le Begriff des „Orga­nis­mus“ verges­sen werden kann, dessen spezi­fi­sche Eigen­schaf­ten Rudolf Stei­ner auch im sozia­len Gesche­hen wirk­sam und gestalt­bar sieht.

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Nach der Kata­stro­phe des 2. Welt­kriegs erar­bei­te 1948 ein „Verfas­sungs­kon­vent“ die Grund­zü­ge für eine neue Verfas­sung für das Gebiet der west­li­chen Besat­zungs­zo­nen Deutsch­lands. Der „Parla­men­ta­ri­sche Rat“ aus Vertre­tern der Bundes­län­der der drei Besat­zungs­zo­nen schuf daraus das „Grund­ge­setz“, das Mai 1949 in Kraft trat. Es genießt Verfassungsrang.

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Es soll hier versucht werden, aus der Sicht der Inten­tio­nen Rudolf Stei­ners die entspre­chen­den Bestim­mun­gen des deut­schen Grund­ge­set­zes darauf hin zu betrach­ten, wie weit seine vor einem Jahr­hun­dert gege­be­nen Inten­tio­nen in Deutsch­land verfas­sungs­ge­mä­ße Wirk­lich­keit gewor­den sind. Allem voran stehen Grund­rech­te, die für die Gesetz­ge­bung, die Recht­spre­chung, für alles staat­li­che Handeln, ja für jeden Bürger bindend sind. Über sie wacht das Bundes­ver­fas­sungs­ge­richt, das jeder anru­fen kann, wenn er Verstö­ße erlebt: Sowohl Einzel­per­so­nen wie auch Verbän­de (u. a. Bund der Freien Waldorf­schu­len) haben es ange­ru­fen und viel­fach Recht erhal­ten. Hier einige im Sinne der „Drei­glie­de­rung“ wesent­li­che Artikel:

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Arti­kel 2
(1) Jeder hat das Recht auf die freie Entfal­tung seiner Persön­lich­keit, soweit er nicht die Rechte ande­rer verletzt …
(2)… Die Frei­heit der Person ist unverletzlich. …

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Arti­kel 3
(1) Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. ..
(3) Niemand darf wegen seines Geschlech­tes, seiner Abstam­mung, seiner Rasse, seiner Spra­che, seiner Heimat und Herkunft, seines Glau­bens, seiner reli­giö­sen oder poli­ti­schen Anschau­un­gen benach­tei­ligt oder bevor­zugt werden. Niemand darf wegen seiner Behin­de­rung benach­tei­ligt werden.

- – - Arti­kel 4
(1) Die Frei­heit des Glau­bens, des Gewis­sens und die Frei­heit des reli­giö­sen und welt­an­schau­li­chen Bekennt­nis­ses sind unverletzlich.

- – - Arti­kel 5
(1) Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbrei­ten und sich aus allge­mein zugäng­li­chen Quel­len unge­hin­dert zu unter­rich­ten. Die Pres­se­frei­heit und die Frei­heit der Bericht­erstat­tung durch Rund­funk und Film werden gewährleistet. …
(3) Kunst und Wissen­schaft, Forschung und Lehre sind frei. Die Frei­heit der Lehre entbin­det nicht von der Treue zur Verfassung.

- – - Arti­kel 7
(1) Das gesam­te Schul­we­sen steht unter der Aufsicht des Staates.
(4) Das Recht zur Errich­tung von priva­ten Schu­len wird gewähr­leis­tet. Priva­te Schu­len als Ersatz für öffent­li­che Schu­len bedür­fen der Geneh­mi­gung des Staa­tes und unter­ste­hen den Landes­ge­set­zen. Die Geneh­mi­gung ist zu ertei­len, wenn die priva­ten Schu­len in ihren Lehr­zie­len und Einrich­tun­gen sowie in der wissen­schaft­li­chen Ausbil­dung ihrer Lehr­kräf­te nicht hinter den öffent­li­chen Schu­len zurück­ste­hen und eine Sonde­rung der Schü­ler nach den Besitz­ver­hält­nis­sen der Eltern nicht geför­dert wird. Die Geneh­mi­gung ist zu versa­gen, wenn die wirt­schaft­li­che und recht­li­che Stel­lung der Lehr­kräf­te nicht genü­gend gesi­chert ist.

- – - Arti­kel 9
(1) Alle Deut­schen haben das Recht, Verei­ne und Gesell­schaf­ten zu bilden.
(3) Das Recht, zur Wahrung und Förde­rung der Arbeits- und Wirt­schafts­be­din­gun­gen Verei­ni­gun­gen zu bilden, ist für jeder­mann und für alle Berufe gewähr­leis­tet. Abre­den, die dieses Recht einschrän­ken oder zu behin­dern suchen, sind nich­tig, hier­auf gerich­te­te Maßnah­men sind rechtswidrig.

- – - Arti­kel 12
(1) Alle Deut­schen haben das Recht, Beruf, Arbeits­platz und Ausbil­dungs­stät­te frei zu wählen. Die Berufs­aus­übung kann durch Gesetz oder auf Grund eines Geset­zes gere­gelt werden.

- – - Arti­kel 14
(1) Das Eigen­tum und das Erbrecht werden gewähr­leis­tet. Inhalt und Schran­ken werden durch die Geset­ze bestimmt.
(2) Eigen­tum verpflich­tet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allge­mein­heit dienen.
(3) Eine Enteig­nung ist nur zum Wohle der Allge­mein­heit zuläs­sig. Sie darf nur durch Gesetz oder auf Grund eines Geset­zes erfol­gen, das Art und Ausmaß der Entschä­di­gung regelt. Die Entschä­di­gung ist unter gerech­ter Abwä­gung der Inter­es­sen der Allge­mein­heit und der Betei­lig­ten zu bestimmen.

- – - Arti­kel 15
Grund und Boden, Natur­schät­ze und Produk­ti­ons­mit­tel können zum Zwecke der Verge­sell­schaf­tung durch ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschä­di­gung regelt, in Gemein­ei­gen­tum oder in andere Formen der Gemein­wirt­schaft über­führt werden.

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Diese Arti­kel des deut­schen Grund­ge­set­zes zeigen auf den ersten Blick eine erstaun­li­che Korre­spon­denz zu den Forde­run­gen, die Silvio Gesell und Rudolf Stei­ner vertra­ten. Sind sie, bedingt auch durch die Kata­stro­phen, verur­sacht von entge­gen­ge­setz­ten tota­li­tä­ren Ideo­lo­gien, so sinn­fäl­lig gewor­den, dass sie allge­mei­ne Zustim­mung finden und daher in die grund­le­gen­den Arti­kel der deut­schen Verfas­sung Eingang fanden?

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Dabei kommt vor allem das Werk des promi­nen­ten Kölner Staats­recht-Profes­sors Ernst von Hippel „Gewal­ten­tei­lung im moder­nen Staate“ in Betracht, das damals Aufmerk­sam­keit fand: Es stellt die Drei­glie­de­rung im Sinne Rudolf Stei­ners in direk­tem Bezug zur „Drei­tei­lung der Gewal­ten“ dar, die ja als wesent­li­che Grund­la­ge für alle demo­kra­ti­schen Verfas­sun­gen gilt.

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Erstau­nen muss die ideal­ty­pi­sche „Drei­glie­de­rung“ im Arti­kel 7 (4) über die „priva­ten Schu­len“: Sie müssen geneh­migt werden, wenn sie drei Berei­che quali­fi­ziert gestalten:

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Lehr­zie­le und wissen­schaft­li­che Ausbil­dung der Lehrer,
glei­che Zugangs­rech­te für alle Kinder, unab­hän­gig von den „Besitz­ver­hält­nis­sen“, gesi­cher­te recht­li­che Stel­lung der Lehrer,
gesi­cher­te Einkom­mens­ver­hält­nis­se für die Lehrer
und damit die Ideale „Frei­heit – Gleich­heit – Brüder­lich­keit“, die der sozia­len Drei­glie­de­rung zu Grunde liegen, glei­cher­ma­ßen einfordern.

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Diese Bestim­mun­gen fanden Nieder­schlag in den Schul­ge­set­zen der Länder: Nur aus dem Verbund aller drei Lebens­fel­der im glei­chen Arti­kel des Grund­ge­set­zes ergibt sich die Finan­zie­rungs­pflicht des Staa­tes für die freien Schulen!

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In Hinblick auf diese Bezüge zu Silvio Gesells und Rudolf Stei­ners Inten­tio­nen entste­hen Fragen, wo die Ursa­chen für die unbe­streit­ba­ren Unzu­träg­lich­kei­ten im aktu­el­len sozia­len Gesche­hen in der Bundes­re­pu­blik liegen. Liegen sie darin, dass die Gesetz­ge­bung und die gesell­schaft­li­chen Verfah­rens­wei­sen viel­fach der Verfas­sung nicht entspre­chen? Gibt es Forde­run­gen im Grund­ge­setz, die nicht oder nur teil­wei­se in Geset­ze über­tra­gen wurden? Oder bestehen sogar Diskre­pan­zen der Gesetz­ge­bung zum Grundgesetz?

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Diese Fragen können, ja müssen zumin­dest teil­wei­se mit einem JA beant­wor­tet werden. So ist offen­sicht­lich die Sozi­al­ver­pflich­tung des Eigen­tums weit­ge­hend unbe­stimmt, also zu wenig in der Gesetz­ge­bung veran­kert. Solche Defi­zi­te könn­ten nur dadurch besei­tigt werden, indem das Grund­ge­setz in einzel­nen Bestim­mun­gen präzi­siert und/oder erwei­tert oder indem Geset­ze korri­giert oder neu geschaf­fen werden. Leider schei­nen derar­ti­ge Unter­fan­gen nur mit hohen Einsatz reali­sier­bar: Muss doch ein berech­tig­tes Organ einen Geset­zes­an­trag in den Bundes­tag einbrin­gen und dort eine — ggf. quali­fi­zier­te Mehr­heit — finden! Daran schei­ter­te mehr­fach sogar der Bundes­rat, das verfas­sungs­ge­mä­ße Organ der Bundes­län­der: Es entwarf immer wieder Geset­ze, die nicht zur Beschluss­fas­sung kamen, weil kein dazu berech­tig­tes Organ diese Entwür­fe in den Bundes­tag einbrach­te!
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